Rückfrage von Harold (16.12.2019):

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Wiedemann,

Auf diesem Wege möchte ich mich bei Ihnen ganz herzlich für Ihre schnelle, ausführliche und für mein besseres Verständnis sehr hilfreiche Antwort bedanken.

Ich habe z.Z. (9 Wochen nach Entfernung meiner Prostata) immer noch ungewollten Urinverlust beim (Auf) Stehen und Laufen wohingegen dies beim Sitzen und Liegen nicht der Fall ist. Ihre Erklärung für das Wegbleiben der Inkontinenz beim Liegen leuchtet mir ein aber warum ich auch beim Sitzen kein Problem habe, ist mir weniger klar. Denn die Körperhaltung beim Sitzen ist doch auch aufrecht und der Bauchdruck müsste dann doch ähnlich hoch wie beim Stehen sein. Womöglich ist dies durch den Gegendruck, den die Sitzfläche des Stuhls dabei auf den Unterkörper ausübt, zu erklären ??

Ich habe ab morgen zweimal pro Woche Beckenbodentherapie mit Elektrostimulation und Biofeedback. Ist dies Ihrer Meinung nach der richtige Weg um meine Blase wieder unter Kontrolle zu bekommen (trotz [oder gerade wegen] des während der OP entfernten inneren Schliessmuskels) ? Wodurch können denn die Beckenbodenmuskeln dem Blasendruck für längere Zeit widerstehen? Einfach nur dadurch, dass sie durch die Beckenbodenübungen dicker/stärker werden? Oder gibt es etwa auch im Beckenboden einen ringförmigen Schliessmuskel, der nach fleissigem Üben dann den Urinleiter besser abschliesst ?

Nochmals herzlichen Dank dafür, dass Sie sich die Zeit und Mühe nehmen, um den Patienten diese doch oftmals schwierigen Sachverhalte in verständlicher Sprache zu verdeutlichen und damit helfen, oftmals grosse Ängste und Unsicherheiten bei den Betroffenen wegzunehmen.

Antwort von Prof. Wiedemann:

Lieber Harold,

im Sitzen ist der „Bauchdruck“ auf den Beckenboden geringer und konstanter als bei Bewegung, beim Laufen oder Treppensteigen.

Der Aufbau der Muskeln im Beckenboden wird seine Zeit dauern – genau, wie bei einem Body-Builder mindestens ein halbes Jahr.

Es gibt ein Medikament, dass dies unterstützen könnte. Es heißt Duloxetin, Handelsname Yentreve 2 x 40 mg. Es ist bei Urologen unbeliebt, weil es nur die Zulassung für Frauen hat (im Zulassungsprozess hatte bei ein paar Millionen Frauen mit dem Beckenbodenproblem nach Geburten niemand an die 20.000 Männer mit rad. Prostatektomie gedacht). Also sperren sich die Krankenkassen (was unverständlich ist) gegen eine Bezahlung. Ich würde Ihnen empfehlen, es notfalls selbst zu bezahlen oder einen Antrag bei der Krankenkasse zu stellen. Es wirkt bei Männern übrigens besser als bei Frauen.

Wenn nach einem 3/4 Jahr keinerlei Besserung zu erzielen ist, können operative Methoden helfen.

Mit freundlichen Grüßen,
Prof. Dr. med. Andreas Wiedemann, Chefarzt der Urologischen Klinik, Ev. Krankenhaus Witten gGmbH

Ursprüngliche Frage von Harold:

Habe Ihre sehr interessante Homepage gelesen. Doch ist mir noch etwas unklar. Sie schreiben zum Thema „Gibt es tatsächlich 2 Schliessmuskeln?“ u.a., dass bei der kompletten Entfernung der Prostata bei Prostatakrebs der innere Schliessmuskel generell entfernt wird und dass das Reservesystem äusserer Schliessmuskel dann lernen müsse in „Dauerbetrieb“ überzugehen.

1. Frage: Wird bei jeder radikalen Prostataoperation (RALP) generell so wie Sie schreiben der innere Schliessmuskel entfernt? Meinem OP-Bericht entnehme ich nämlich: Der Blasenhals ist gut bewahrt geblieben. Anscheinend gibt es doch Operationstechniken (z.B. mit daVinci Roboter), bei denen der innere Schliessmuskel nicht generell entfernt wird. Sehe ich dies richtig?

2. Frage: Wie kann der äußere Schließmuskel bei völliger Entfernung während RALP auf Dauerbetrieb übergehen? Man kann seinen Beckenboden/äußeren Schließmuskel doch nicht Tag und Nacht willkürlich anspannen um Inkontinenz zu verhindern. Da wäre doch der äußere Schließmuskel m.E. doch total  überfordert. Schließlich kann der innere Schließmuskel nicht umsonst nur UNwillkürlich betätigt werden und der äußere eben vor allem (=außer refeflektorisch) willkürlich.

Wenn tatsächlich bei jeder radikalen Prostataentfernung generell der innere Schließmuskel entfernt würde, dann wäre m.E. doch jeder Patient danach DEFINITIV inkontinent? Wie muss ich dies verstehen? Im voraus herzlichen Dank für Ihre Reaktion.

Antwort von Prof. Wiedemann:

Lieber Harold,

der „innere Schließmuskel“ wird bei jeder Operationstechnik entfernt. In dem von Ihnen zitierten OP-Bericht ist von den weiter oben gelegenen Blasenanteilen die Rede, die salopp auch „Blasenhals“ genannt werden, aber nicht dem funktionell wirksamen inneren Schließmuskel entsprechen.

Nachts ist glücklicherweise der manuelle Druck auf der Blase im entspannten Liegen so gering, dass auch der (minimale) Ruhedruck des restlichen Schließmuskelsystems ausreicht, die Kontinenz zu gewährleisten. Das ändert sich (wie Sie vielleicht an eigenem Leib erleben) bei voller Blase oder mechanischem Druck auf die Blase z. B. beim Husten oder Springen.

Mit freundlichen Grüßen,
Prof. Dr. med. Andreas Wiedemann, Chefarzt der Urologischen Klinik, Ev. Krankenhaus Witten gGmbH